Bei der Anmeldung eines europäischen Patents kann das Prioritätsrecht einer vorangegangenen Anmeldung in Anspruch genommen werden, wenn beide „dieselbe Erfindung“ betreffen. Der Bundesgerichtshof hatte nun darüber zu entscheiden, inwieweit Verallgemeinerungen in einer Nachanmeldung zulässig sind, ohne den Offenbarungsgehalt der Prioritätsanmeldungen zu überschreiten.
Ein mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteiltes europäisches Patent, das ein Funkkommunikationssystem mit primären und sekundären Stationen sowie eine Methode zum Betrieb eines solchen Systems betrifft, wurde mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen. Der Patentinhaber hatte die Priorität von mehreren britischen Patenanmeldungen in Anspruch genommen.
Das BPatG war der Auffassung, dass der Gegenstand des Patents in der erteilten Fassung tatsächlich nicht patentfähig ist und erklärte das Patent für nichtig. Der Patentinhaber könne – so das BPatG – nicht die Priorität aller britischen Anmeldungen in Anspruch nehmen, da es sich bei dem Gegenstand des Patents nicht um dieselbe Erfindung handele wie diejenige, die den britischen Patentanmeldungen zu entnehmen sei. Diese enthielten für den Fachmann explizite Aussagen dahin, dass es sich bei dem Kommunikationskanal um einen Frequenzteilungs-Duplex-Kommunikationskanal handele und über die Steuerkanäle Leistungssteuerungs- und Bitrateninformationen übertragen würden. Das Patent beanspruche demgegenüber allgemein einen Kommunikationskanal, bei dem nicht näher spezifizierte Steuerinformationen über die Steuerkanäle übertragen werden.
Entscheidung des Gerichts
Der BGH hat in seinem Urteil vom 11. 02.2014 – Az. X ZR 107/12 (Kommunikationskanal) entschieden, dass die Priorität einer Voranmeldung dann in Anspruch genommen werden kann, wenn sich die dort anhand eines Ausführungsbeispiels oder in sonstiger Weise beschriebenen technischen Anweisungen für den Fachmann als Ausgestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellen und diese Lehre in der in der Nachanmeldung offenbarten Allgemeinheit bereits der Voranmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist.
Voraussetzung dafür, dass bei der Anmeldung eines europäischen Patents das Prioritätsrecht einer vorangegangenen Anmeldung in Anspruch genommen werden kann, ist grundsätzlich, dass beide dieselbe Erfindung betreffen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn die mit der Nachanmeldung beanspruchte Merkmalskombination in der Voranmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist. Zu klären ist sodann, ob der Gegenstand der beanspruchten Erfindung im Prioritätsdokument identisch offenbart wird, wobei die Offenbarung des Gegenstands der ersten Anmeldung nicht auf die dort formulierten Ansprüche beschränkt ist. Vielmehr ist dieser aus der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen zu ermitteln.
Für die Beurteilung der identischen Offenbarung werden vom BGH die Prinzipien der Neuheitsprüfung herangezogen. Hiernach ist erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete Lehre den Ursprungsunterlagen „unmittelbar und eindeutig“ als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann.
In diesem Zusammenhang ist daher – so der BGH – zu ermitteln, was der Fachmann nach seinem Verständnis zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden Patentanmeldung der Vorveröffentlichung als Inhalt der gegebenen allgemeinen Lehre entnimmt.
Das Erfordernis einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung muss nach Ansicht des BGH dabei in einer Weise angewendet werden, die berücksichtigt, dass die Ermittlung dessen, was dem Fachmann als Erfindung und was als Ausführungsbeispiel der Erfindung offenbart wird, wertenden Charakter hat. Eine unangemessene Beschränkung des Anmelders müsse bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der Voranmeldung vermieden werden.
Hierbei sei zu berücksichtigen, dass das Interesse des Anmelders regelmäßig auf einen möglichst breiten Schutz gerichtet und eine Beschränkung auf aufgezeigte Ausführungsbeispiele nicht gewollt sei. In der Anmeldung formulierte Ansprüche hätten zunächst nur vorläufigen Charakter; erst mit der Erteilung des Patents mit bestimmten Ansprüchen erfolge eine endgültige Festlegung des Schutzgegenstands.
Vor diesem Hintergrund sind nach Auffassung des BGH grundsätzlich bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts auch Verallgemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zulässig.
Danach ist ein “breit” formulierter Anspruch unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung jedenfalls dann unbedenklich, wenn sich ein in der Anmeldung beschriebenes Ausführungsbeispiel der Erfindung für den Fachmann als Ausgestaltung der im Anspruch umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellt und diese Lehre in der beanspruchten Allgemeinheit für ihn bereits der Anmeldung – sei es in Gestalt eines in der Anmeldung formulierten Anspruchs, sei es nach dem Gesamtzusammenhang der Unterlagen – als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist.
Solche Verallgemeinerungen sind – so der BGH – vornehmlich dann zugelassen worden, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen worden sind.
Nach vergleichbaren Maßgaben ist sodann die Prüfung vorzunehmen, ob der Gegenstand der Erfindung im Prioritätsdokument identisch offenbart ist.
Die Priorität einer Voranmeldung kann – nach Ansicht des BGH – daher in Anspruch genommen werden, wenn sich die dort anhand eines Ausführungsbeispiels oder in sonstiger Weise beschriebenen Anweisungen für den Fachmann als Ausgestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellen und diese Lehre in der in der Nachanmeldung offenbarten Allgemeinheit bereits der Voranmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes kam der BGH im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass der Patentinhaber die Priorität der Voranmeldung in Anspruch nehmen konnte.
Fazit
In der vorliegenden Entscheidung wurden vom BGH die Voraussetzungen einer wirksamen Inanspruchnahme der Priorität einer früheren Anmeldung unter Darstellung der relevanten Rechtsprechung zur „identischen Offenbarung“ zusammengefasst und sodann weiter konkretisiert. Damit gibt der BGH einen nützlichen Leitfaden an die Hand, inwieweit die Priorität einer Voranmeldung in Anspruch genommen werden kann, auch wenn die Nachanmeldung dieser nicht 1:1 entspricht.
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